Grundlage der anthroposophischen Tiermedizin ist die naturwissenschaftliche Tierheilkunde, erweitert um die Erkenntnisse der anthroposophischen Geisteswissenschaft, die von Rudolf Steiner begründet wurde.
Diese Erkenntnisse beinhalten auch nicht-materieller Kräfte und Prozesse und ermöglichen so eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen, des Tier-, Pflanzen- und Mineralreichs, ja der ganzen Erde und des Kosmos. Mit diesen Erkenntnissen eröffnet sich uns eine neue, ganzheitliche Sichtweise der Tiermedizin, die weit über das hinausgeht, was die Naturwissenschaft beschäftigt.
Die Anthroposophie hat dazu Methoden der Schulung, Wahrnehmung und Erforschung entwickelt die eine Umsetzung der geistigen Erkenntnisse in anwendbare Systeme ermöglichen. In Kunst und Architektur, sowie in der Pädagogik, der Landwirtschaft und der Heilkunde sind anthroposophisch-basierte Initiativen und Unternehmen seit vielen Jahrzehnten fester Bestandteil. Auch wenn der Begriff „Anthroposophie“ Weisheit vom Menschen bedeutet, so schließt diese grundsätzliche Betrachtungsweise von Leben auch die anderen Naturreiche und somit auch die Tiere ein.

Fragen zum Tierwesen
Um das Wesen von Tieren zu fassen beschäftigen und viele Fragen:
Was ist ein Tier? Als Gattung, Art, Herden- oder Einzeltier? Als Wild-, Haus- oder Heimtier? Welche Bedeutung haben die verschiedenen Tierarten? Wie und wann sind sie entstanden? Was haben sie gemeinsam? Was unterscheidet sie? Was ist ihre Aufgabe in dieser Welt? Wie ist der Zusammenhang zur geistigen Welt, mit der Entwicklung der Erde? Hat das Tier eine Seele? Welche Beziehung hat das Tier zu seinem Körper? Wie empfindet es? Können Tiere denken? Haben Tiere ein Gedächtnis? Was ist Instinkt? Wie kommunizieren Tiere? Wie kann ich ein Tier verstehen? Wann und wie sind Wildtiere bzw. Haustiere entstanden? Wie verhält sich das Wildtier zu seiner natürlichen, das Haustier zu seiner menschengeprägten Umgebung? Wo liegen die Fähigkeiten, Stärken und Schwächen ihres Organismus?
Und Fragen, die für uns Tierärzte von besonderer Bedeutung sind:
In welcher Beziehung stehen Tiere zur Menschheit, zum Menschen, zu seinem Betreuer? Was hat sein Organismus gemeinsam mit dem des Menschen? Wodurch unterscheidet er sich von ihm?
Was bedeutet es, wenn ein Tier krank ist? Wie leidet es? Wie spürt es Schmerzen? Welches ist seine Beziehung zur Krankheit? Wie geht der Mensch, wie geht das Tier mit seiner Krankheit um? Welcher Sinn steht dahinter? Welche Bedeutung haben (Tier)Seuchen? All diese Fragen lassen sich zusammenfassen in der Grundfrage: Was ist DAS WESEN DES TIERES ?

Anthroposophische Betrachtungsweise
Ausgehend von der Erkenntnis über das Menschsein lassen sich zwei grundlegende Systeme beschreiben, die in modifizierter Form auch für das Säugetier Gültigkeit haben:

  • die „Viergliederung“, beruht auf den kräfteorientierten Wesensgliedern: der physische Leib, der Ätherleib, der Astralleib und das Ich.
  • die „funktionelle Dreigliederung“, die drei wesentliche Prozesse beschreibt, die in einem Organismus wirken.

Die Viergliederung
wird wie folgt unterteilt in:

  1. eine physische Organisation, die physikalisch-chemischen Kräften untersteht und mit dem Mineralreich zusammenhängt – der physische Leib.
  2. eine von kosmischen Kräften bestimmte Lebensorganisation, die mit der Pflanzenwelt Gemeinsamkeiten hat – der Ätherleib.
  3. eine seelische Organisation, die durch Empfindungskräfte bestimmt wird und mit dem Tierreich gemeinsam ist – der Astralleib.
  4. und die geistig bestimmte Ich-Organisation – das Ich beim Menschen.

Nach anthroposophischer Sichtweise ist das « Ich » für jeden einzelnen Menschen individuell. Es ist der Teil des Menschen, der sich von einem Leben zum nächsten immer wieder auf der Erde inkarniert und sich durch die dabei gemachten Erfahrungen weiterentwickelt. Das Ich prägt die andern drei Wesensglieder.
Über die anthroposophische Sichtweise vom „Ich“ der Tiere gibt es viele Diskussionen, denn das Tier-Ich ist demnach nicht vollständig im Erdenleib eines Tieres inkarniert sondern existiert in der geistigen Welt. Es ist auch nicht ein persönliches Ich, sondern entspricht eher Ursprung und Führung einer Tierart und wird deswegen auch Gruppen-Ich genannt. Mit ihm hängt der Instinkt der Tiere zusammen. Es prägt die andern Wesensglieder jedes Einzeltiers, daher sind sich Tiere einer Art untereinander ähnlicher als Menschen untereinander. Die Erfahrungen mit Tieren und die ethologische Forschung der letzten Jahrzehnte zeigen, dass es Unterschiede innerhalb der Tierwelt gibt, dass höher entwickelte Tiere durchaus so etwas wie ein Ich haben, was sie individueller macht.
Im Vortrag „Über die Beziehung des Menschen zu der ihn umgebenden Welt (Nürnberg 1.Dez 1907 “
sagt Rudolf Steiner dieses:
…..“Denn auf dem, was wir den physischen Plan (Erklärung: unsere Erde) nennen hat nur der Mensch Selbstbewusstsein, ein Ich, nicht das Tier, nicht die Pflanze nicht das Mineral,…
Nun müssen sie diese Worte, die ich jetzt spreche, nicht so nehmen, dass sie gleich wieder mit dem Entweder-Oder darüber denken. Sie müssen sich klar bewusst sein, dass gewisse höhere Tiere, namentlich solche, die mit dem Menschen viel zusammenleben, wie die Haustiere, eine Art von Selbstbewusstsein haben,……..“

Die funktionelle Dreigliederung
differenziert Prozesse:

  1. einen aufbauenden Prozess, das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System
  2. einen abbauendem Prozess, das Nerven-Sinnes-System
  3. ein zwischen diesen beiden vermittelnden Prozess, das Rhythmische System

Alle drei Prozesse sind im ganzen Organismus tätig, haben aber ihren Schwerpunkt in jeweils verschiedenen Körperregionen und Organen. Dementsprechend bezeichnet die anthropo-anthroposophische Menschenkunde die Nerven-Sinnes-Prozesse als „ oberer Mensch“ oder sogar als „Kopf“, die Stoffwechsel-Gliedmaßen Prozesse als „unterer Mensch“ und die rhythmischen Pro-
zesse als „mittlerer Mensch“.
Die Prozesse in diesen drei Systemen stellen die leiblichen Grundlagen dar für das Wahrnehmen und Denken (das Oben), für Bewegung, Tun und Wollen (das Unten) und für das Fühlen (die Mitte). Das sind die drei menschlichen Seelenfähigkeiten. Die Ausgewogenheit dieser drei Prozesse, vor allem die Stärke der rhythmischen Mitte, ermöglicht dem Menschen seine Freiheit.

Besonderheit beim Tier
Beim Tier, das nicht aufrecht zwischen Himmel und Erde steht wie der Mensch, sondern seine Wirbelsäule waagrecht und parallel zur Erdoberfläche trägt, scheint das mittlere, das rhythmische System nicht so eigenständig wie beim Menschen zu funktionieren, so dass sich die Prozesse des „ Vorne“ und des „Hinten“ in der Mitte vermischen. Wahrnehmen (z.B. Tierarzt) und Tun (z.B. davonrennen oder beißen) können vom Tier nicht so klar getrennt und bewusst gehandhabt werden wie vom Menschen (z.B. müde sein und doch nicht schlafen wollen). Dementsprechend bezeichnet Rudolf Steiner die Funktionen des tierischen Organismus eher als „ Zweigliederung“.
Die verschiedenen Tierarten unterscheiden sich durch die unterschiedliche Gewichtung dieser Prozesse. Dadurch ergibt sich eine fast unendlich vielfältige Variationsbreite in der Tierwelt, was auch ihren besonderen Reiz ausmacht. Bei den aufmerksamen, schnellen Nagetieren z.B. überwiegen die Nerven-Sinnesprozesse, während bei den Wiederkäuern die überwiegende Stoffwechseltätigkeit durch die Ausbildung eines sehr differenzierten Verdauungssystems und damit eine eindrückliche Verdauungsleistung zum Vorschein kommt. Katzenartige zeichnen sich unter anderem durch Geduld aus, ihre „mittleren“ Prozesse sind stark ausgeprägt.

Krankheit und Therapie
Die Wesensglieder und Funktionen der Dreigliederung stehen in einem beweglichen Gleichgewicht und sind spezifisch für den individuellen Menschen, für jede Tier-Art, jedes Tier, jedes Organ-System, jedes Organ, jedes Gewebe. Gesundheit bedeutet die Fähigkeit eines Organismus, dieses Gleichgewicht in Bezug auf seine Wesensglieder und seine Funktionen aufrechtzuerhalten. In der tierärztlichen Praxis bezeichnen wir das auch als Selbstheilungskräfte.
Krankheit ist dadurch charakterisiert, dass ein Organismus nicht mehr fähig ist, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen.
Zwischen Mensch und Tier besteht da ein sehr wichtiger Unterschied im Umgang mit Kranksein. Der Mensch kann dadurch, dass er permanent um sein Gleichgewicht ringt, insbesondere wenn er krank ist, Nutzen für seine seelisch-geistige Entwicklung ziehen. Er kann den Umgang mit seiner Krankheit bewusst begleiten und gestalten. Diese Möglichkeit fehlt dem Tier und teilweise auch dem Kind. Es erlebt Schmerz und Leiden intensiver, da seine Seele mit seinem Organismus enger verbunden ist, als dies beim erwachsenen Menschen der Fall ist. Das Tier kann nicht bewusst relativieren.
Dies muss bei der Wahl der Therapie und der Heilmittel berücksichtigt werden. Sie basiert im Wesentlichen auf der Diagnose des gestörten Gleichgewichts der Funktionen und / oder der Wesensglieder. Darin besteht die Kunst des Therapeuten.
Es ist zu berücksichtigen, dass die Tiere, insbesondere die Haus- und Heimtiere, die die Mehrzahl unserer Patienten ausmachen, in einem engen sozialen Kontakt mit ihrer Umgebung und ihren Menschen stehen und auch diese Einflüsse bewältigen müssen. Nutztiere sind ebenso der durch den Menschen vorgegebenen Haltungsumwelt ausgesetzt. Die Qualität der Mensch-Tier-Beziehung kann bei Nutztieren und bei Heimtieren in ganz verschiedene Extreme abweichen. Tiere (und Kinder) sind in weit größerem Maße äußeren Einflüssen ausgeliefert als erwachsene Menschen.
Interessanterweise gibt es bei Wildtieren, falls sie in einer intakten Umwelt ohne Störung leben, kaum Krankheiten. Krankheiten treten erst dort auf, wo die Umweltbedingungen sich verändern. Eine Beeinflussung durch uns Menschen und unserer raumgreifenden, natürliche Zusammenhänge missachtenden Kolonialisierung dieser Erde trägt dafür sicher die Hauptverantwortung. Bei den Nutz-Heim- und Hobbytieren, die den Großteil unserer Patienten in der tierärztlichen Praxis stellen, ist dieser Einfluss ganz besonders groß.
Die Behandlung eines kranken Patienten in der Praxis sollte deshalb immer bei der/dem Tierbesitzer/in beginnen, die in der Regel auch unser Ansprechpartner sind. Aufklärung über arttypisches Verhalten und daraus abgeleitete Erfordernisse für Haltung, Fütterung und Betreuung auf materieller und seelischer Ebene kann viel bewirken, auch für die Prophylaxe. Da dies nicht immer einfach und von Erfolg gekrönt ist, ist es auch unsere Aufgabe, dem kranken Einzeltier Hilfe zu bieten.

Heilmittel
Die Remedien für eine anthroposophische Therapie werden aus tierischen, pflanzlichen oder mineralischen Substanzen hergestellt, welche durch ihre Entstehungsgeschichte eine Verwandtschaft mit den diagnostizierten Ungleichgewichten im erkrankten Patienten aufweisen.
Zwischen bestimmten Stoffklassen und den Wesensgliedern sowie Stoffen und Organen, Funktionen und Konstitutionen bestehen besondere Affinitäten, die zu erlernen und zu berücksichtigen sind.
Ebenso wichtig wie die Stoff sind ihre Kombinationen und Herstellungsprozesse. Sie sind die Voraussetzung für eine optimale Wirkung im kranken Organismus. Viele Substanzen werden dazu potenziert. Homöopathisch hergestellte Arzneien spielen in der anthroposophischen Medizin eine wichtige Rolle, auch wenn sie unter anderen Gesichtspunkten, als in der klassischen Homöopathie eingesetzt werden.
Es werden in der Tiermedizin mit guten bis sehr guten Erfolgen sowohl für Tiere neu konzipierte als auch ausgewählte Heilmittel aus der anthroposophischen Humanmedizin eingesetzt.
Die anthroposophische Tiermedizin gibt es seit über 100 Jahren und stellt einen ganzheitlichen Therapieansatz dar. Es besteht aber immer noch ein immenser Forschungsbedarf. Die Fachgruppe anthroposophische Tiermedizin in der GGTM bemüht sich in regelmäßigen Arbeitstagungen darum.
Seit dem Anfang ihrer Entwicklungsgeschichte sind Tiere eine Grundlage für das materielle, seelische und geistige Dasein und die allgemeine und persönliche Weiterentwicklung aller Menschen, ganz besonders auch für uns Tierärzte/innen. Deshalb gebietet es der Respekt vor der Schöpfung, uns vor den Tieren zu verbeugen und ihnen zu danken.

Fachgruppe anthroposophische Tiermedizin in der GGTM